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Rettet meine Wiesen

Pflanzschnitt Ingo Lau

Vor mehr als 30 Jahren habe ich von meiner Großmutter rund 18 ar Fläche mit Streuobstwiesen in Murr an der Murr geerbt. Seitdem mähe ich, seitdem schneide ich Bäume, seitdem ersetze ich alte sterbende gegen junge Hochstämme, seitdem lese ich Äpfel auf für 10 Euro je Doppelzentner.

Warum mache ich das? Diese Frage wird mir immer wieder gestellt, und auch ich selbst stelle mir die Frage häufig. Es gibt keinen monetären Ertrag, aber ganz viel Arbeit.

Ein Hilferuf zum Tag der Streuobstwiese am 26. April 2024 von Ingo Lau

Meine Wiesen erinnern mich an meine Kindheit. Sie sind ein Erbe meiner Vorfahren und sie rühren etwas in mir an, das ich nicht richtig mit Worten greifen kann. Die Wiesen sind über die Jahre zu einem Kraftort für mich geworden, an dem ich meine Arbeitskraft einbringe, von dem ich aber auch ganz viel Kraft zurückbekomme.

Bald werde auch ich mein sechstes Lebensjahrzehnt vollenden, und hin und wieder fange ich an, an die Zeit zu denken, in der ich nicht mehr in der Lage sein werde, meine Wiesen zu pflegen. An die Zeit, in der ich vielleicht selber Pflege benötigen werde.

Was wird dann aus meinen Wiesen? Werden sie dann auch verloren gehen, wie so viele andere Streuobstwiesen in den letzten 80 Jahren?

Jedes Jahr verliert Baden-Württemberg rund 100.000 große Obstbäume. Von den einst über 19 Millionen Bäumen, die um das Jahr 1900 im Großherzogtum Baden und im Königreich Württemberg auf Wiesen standen, sind uns heute weniger als 7 Millionen geblieben. Von den über 2.700 Apfelsorten, die wir einstmals hatten, sind vielleicht drei oder vier Dutzend übrig. Wenn meine Wiesen verschwinden, dann werden es wieder ein oder zwei Sorten weniger sein.

Viele Menschen, die weit klüger sind als ich, haben sich inzwischen Gedanken gemacht, über das Sterben der Streuobstwiesen. Es gibt Tagungen, auf denen Fördermaßnahmen diskutiert werden. Es gibt zahlreiche NGOs und Initiativen, die sich mit dem Erhalt der Wiesen beschäftigen. Die Politik hat Streuobstwiesen unter Natur- und Landschaftsschutz gestellt, um ihre Bebauung zu verhindern. Doch alle Konzepte bewirken bislang wenig.

Ich denke, es liegt daran, dass der Erhalt des Kulturerbes Streuobstwiese eine gesamtgesellschaftliche Anstrengung benötigt. Denn meine Wiesen haben nicht nur eine Bedeutung für mich.

Sie ziehen an den Wochenenden viele Spaziergänger aus den nahe liegenden Wohngebieten an. Auch diese Menschen erfreuen sich an der Schönheit der satten grünen Wiesen, der alten stolzen Bäume, an dem Blütenmeer ihrer Kronen und an dem duftenden Obst im späten Herbst. Auch diese Menschen tanken dort neue Kraft, um in der nächsten Woche wieder den stressigen Alltag zu bewältigen.

Auf meinen Wiesen äst das Wild im Morgengrauen, versteckt sich der Feldhase vor dem Bussard, kriecht die Blindschleiche links und rechts um die Stengel des Glatthafers, fliegt die Mai-Langhornbiene zielgenau von Wicke zu Wicke. Auf meinen Wiesen leben die Zaun-Eidechse, der Maulwurf, der Ölkäfer, die Hornisse, der kriechende Günsel, das Wiesen-Schaumkraut, die Acker-Witwenblume und viele hundert oder gar tausend weitere Tier- und Pflanzenarten.

Daher sollten wir anfangen, Streuobstwiesen ähnlich zu betrachten wie den Wald, als eine besonders  wertvolle und unverzichtbare Landschaft und als einen Ort der Artenvielfalt. Der Waldbesitzer lebt damals wie heute vom Ertrag aus dem Holzverkauf. Aber wovon lebt der heutige Streuobstwiesenbesitzer? Er hat keine Einnahmequelle und leistet ebenso viel wie der Waldbesitzer.

Um die letzten Streuobstwiesen zu erhalten braucht es viele Menschen und Hände, die an einem Strang ziehen:

  • Es braucht Bauern und Höfe, die das Heu von den Wiesen holen und verfüttern.
  • Es braucht Unternehmer, die aus dem anfallenden Baumschnitt-Material erneuerbare Energie oder Pflanzenkohle produzieren.
  • Es braucht Bäcker, die mit dem Obst von heimischen Wiesen leckeren Kuchen backen.
  • Es braucht Saftereien, die aus den Äpfeln und Birnen lokale Säfte produzieren.
  • Es braucht Verbraucher, die heimische Apfel- und Birnensorten schätzen, auch wenn sie etwas Schorf haben.
  • Es braucht Lehrer, die mit den Kindern auf die Streuobstwiesen gehen und dort mit ihnen praktischen Unterricht machen.
  • Es braucht Eltern, die mit ihren Kindern Obst einkochen und Apfelringe trocknen.
  • Und es braucht Omas und Opas, die ihre Enkelkinder mit auf ihre Wiesen nehmen und ihnen dort erklären, dass man einen Apfel immer bis auf den Butzen aufisst, bevor man ihn wegwirft.

Kurz: Es braucht Ehrfurcht vor dieser wundervollen Schöpfung.

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