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Wie entwickelt sich der Wildbienenbestand?

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Studienvergleich und Schlussfolgerungen – mit einem Fokus auf Süddeutschland und Stuttgart

Das Insektensterben ist in aller Munde und Teil eines viel größeren Problems – des Artensterbens. Die Auswirkungen sind vielen von uns noch nicht bewusst, aber neben den Folgen der Klimaerwärmung wird der Rückgang der Artenvielfalt unangenehme Folgen auf unsere Versorgung, unsere Lebensqualität und unsere Umwelt haben – dazu später mehr. Hier wollen wir erst einmal das Ausmaß in unserem direkten Umfeld anschauen, weil dies der Raum ist, in dem wir besonders gut wirken können. Wir hatten gehofft, neue Studien zu finden, die die Situation der Wildbienen in Süddeutschland/Zentraleuropa über einen längeren Zeitraum untersuchen, weil dies der Fokus unseres Vereins ist. Es gibt eine Studie aus dem Jahr 1999, die den Wildbienenbestand in Stuttgart als Ist-Stand erfasst und etliche Details zu den Lebensräumen, sowie Handlungsempfehlungen gibt [1]. Darüber hinaus konnten wir leider meist nur „verwandte“ Untersuchungen finden, also beispielsweise eine Studie zu Schmetterlingen in Baden-Württemberg oder zu Hummeln in Norwegen.

Dieser Text versucht, den aktuellen Stand der Forschung und Erkenntnisse im Jahr 2023/2024 wiederzugeben und durch Vergleiche, Analyse und Schlussfolgerungen ein klareres Bild vom Insektenschwund zu schaffen, als es die Studien mit ihren unterschiedlichen Blickwinkeln vermögen. Dazu werden die Studien der letzten Jahre sowie ältere Veröffentlichungen herangezogen, sofern sie besonders relevant erscheinen.

NABU, Krefelder Studie und die Bunte Wiese: ein erster Überblick

Im Jahr 2017 erschien vom NABU-Landesverband Baden-Württemberg eine Übersichtsarbeit [2], in der Adam Schnabler anhand zahlreicher Studien zeigt, dass es das Insektensterben wirklich gibt, und 15 Hypothesen zu den Ursachen aufstellt. Dazu gehören in erster Linie der Verlust und die Entwertung von Biotopen durch Einbringung von Giften aller Art (Schwermetalle, Abgase aus der Verbrennung fossiler Brennstoffe durch den Verkehr oder die Industrie, sowie Dünger- und Pflanzenschutzmitteleintrag durch die Landwirtschaft) und durch die Optimierung der Landschaft für die Nutzung durch den Menschen. Die Flurbereinigung, Begradigung von Flussverläufen und Ähnliches sowie die immer stärkere Bebauung und Umnutzung in landwirtschaftliche oder andere Nutzflächen reduziert die Anzahl an Habitaten, vereinzelt diese zusätzlich und führt dazu, dass keinerlei Verbindung mehr zwischen den Lebensräumen besteht. Neben den vielfältigen Effekten, die der Klimawandel mit sich bringt, nennt Schnalber aber auch in mehreren Hypothesen den Verbraucher als einen direkten Einflussnehmer, beispielsweise in der Gestaltung seiner (naturfernen) Gärten, seinem Konsumverhalten, sowie als Ursache von Lichtverschmutzung und für unzählige am Verkehr verendeter Insekten. Einige der Studien erwähnen wir hier auch an anderer Stelle, möchten aber hauptsächlich auf neuere Studien eingehen, um zu zeigen, was in den Jahren 2017 – 2023 an neuen Forschungsergebnissen veröffentlicht wurde.

Die so genannte Krefelder-Studie [3], die vom Entomologenverein Krefeld und deren ehrenamtlichen Mitgliedern durchgeführt wurde, stieß 2017 auf großes Interesse in der Öffentlichkeit, nachdem schon viele andere Studien den Trend des Artenrückgangs bei einzelnen Insektenarten beschrieben hatten. Plakativ gesagt, wurde bei den Erhebungen ein drastischer Rückgang der Biomasse von Fluginsekten in den letzten 30 Jahren festgestellt. – Das kann sicherlich auch jede*r Autofahrer*in auf der Frontscheibe ablesen. Die Bunte Wiese Stuttgart hat den Artikel sehr gut und lesenswert aufbereitet [4]. Daher werden wir hier darauf verzichten. Hervorheben möchten wir aber, dass die Daten zur Biomasse, die zur Berechnung des Rückgangs verwendet wurden, in unterschiedlichen Naturschutzgebieten gemessen und über das gesamte Untersuchungsgebiet gemittelt wurde. Abbildung 1 zeigt, dass die Biomasse pro Tag – also das Gewicht der gefangenen, fliegenden Insekten an einem Tag – von 1990 bis 2015 stark abnimmt.

Abbildung 1: Biomasserückgang pro Tag (g) nach der Krefelder Studie [3] – Die erfasste Biomasse, die in den Fallen Gefangen und gewogen wurde, ging in den Jahren 1990 bis 2015 von rund 10 g auf ca 2 g zurück. Diese Darstellung ist stark vereinfacht, ergibt aber eine ähnliche Aussage wie das Model, das in der Studie aufgestellt wurde: nämlich ein Rückgang der Mitsommerfluginsektenbiomasse um bis zu 82% in 25 Jahren.
Wildbienenschwund: Stuttgarter Studie und Rote Liste

Dieses Ergebnis scheint schon beunruhigend genug zu sein, aber was bedeutet das für die Wildbienen in Baden-Württemberg? Schließlich wurden in der Krefelder Studie alle fliegenden Insekten gewogen, egal, ob es ein dicker Käfer oder eine kleine Wildbiene war. 1999 wurde eine Bestandserfassung [1] vom Stuttgarter Amt für Umweltschutz veröffentlicht. Darin untersuchten die Autor*innen unterschiedlichste Lebensräume im Stuttgarter Stadtgebiet und fokussierten sich vor allem auf besonders gefährdete Arten, da sie hier eine große Verantwortung zum Erhalt sahen. Das Team um Hans Schwenninger führte 108 Freilanduntersuchungen durch und zog weitere Gutachten heran, die ursprünglich andere Verwendungszwecke hatten. Diese Untersuchungen vor 25 Jahren wurden mit historischen Funden verglichen. Wieder kommen die Forschenden zu dem Schluss, dass die Artenvielfalt stark (um ca. 24%) zurückgegangen ist. Die Studie betrachtet verschiedene Lebensräume und unterscheidet im Detail, welche Wildbienenarten dort siedeln können. Des Weiteren gab sie sehr konkrete Handlungsempfehlungen an die Stadt Stuttgart und die Bürgerschaft, um die noch vorhandenen Lebensräume zu erhalten. Dazu später mehr. Eine erneute Studie aus dem Jahr 2024 ist angekündigt, liegt aber zum Veröffentlichungszeitpunkt leider noch nicht vor. Der Vergleich 1999 / 2024 ist natürlich besonders für Stuttgarter Bienenfreunde äußerst interessant.

Einen weiteren Anhaltspunkt gibt die Deutsche Rote Liste der Wildbienen [5], die zuletzt 2011 aktualisiert wurde und seit den 1970er Jahren erfasst wird. Hier schätzen eine Handvoll Expert*innen, wie es aktuell um jede einzelne Bienenart in Deutschland bestellt ist und ob sie den Status einer bedrohten Tierart erhalten muss. Dafür wurden 561 Arten erfasst, von denen nur 37% als ungefährdet eingestuft werden. Mehr als die Hälfte der Wildbienen in Deutschland gilt als extrem selten, ausgerottet oder bestandsgefährdet. Letztere Gruppe ist allein rund 41%; es sind also mehr Arten bestandsgefährdet als ungefährdet. Zudem nimmt auch die Anzahl einzelner Tiere pro Fläche ab, warnen die Autor*innen der Roten Liste.

Als Gründe für den Rückgang werden – ähnlich wie bei der Stuttgarter Studie – die Zerstörung der Lebensräume vor allem die landwirtschaftliche Flurbereinigung seit den 1950er Jahren in vielen Teilen Deutschlands und der Rückgang des Nahrungsangebotes genannt. Damals gingen nicht nur in der klassischen Landwirtschaft viele mosaikartige Kleinbiotope durch Zusammenlegung von Flächen verloren, sondern auch im Weinbau, was dazu führte, dass auch viele Trockenmauern, die als Nistort vieler Wildbienen in Baden-Württemberg dienen, aufgegeben wurden. Zusätzlich dazu machen die Autor*innen darauf aufmerksam, dass auch die Aufforstung dazu führt, von Wildbienen bevorzugte offene Landschaften zu reduzieren.

Eine statistische Auswertung der Roten Liste der Wildbienen Deutschlands [6] zeigt, dass die besonderen Eigenschaften oder Verhaltensweisen von einiger Wildbienenarten ihr Risiko erhöhen auszusterben. Dazu gehören der Flugzeitpunkt, die Flugdauer und die Lebensraumflexibilität. Je später im Jahr eine Art fliegt, desto weniger Pollen und Nektar findet sie, weil sie nicht von den Frühblühern wie beispielsweise den Obstbäumen profitieren kann. Je kürzer die Flugdauer, desto anfälliger ist die Entwicklung der Art gegenüber Starkwetterereignissen, die in diesem Zeitraum fallen könnten. Und übereinstimmend mit den Autor*innen der Roten Liste [5] wird die Lebensraumflexibilität genannt, was bedeutet, dass Bienen, die sich nicht auf einen kleinen Lebensraum beschränken, bessere Ausweichmöglichkeiten haben, wenn dieser zerstört wird. Michaela Hofmann und ihre Mitautor*innen schließen ihren Artikel der Feststellung, dass die intensive Landwirtschaft Bienenbestände dahingehend verändern wird, dass in Zukunft frühfliegende, stadtbewohnende und wärmeangepasste Arten vorherrschen werden.

Im Jahr 2016 berichteten Hans Richard Schwenninger und Erwin Scheuchl bei einer Tagung über den Rückgang der Schwarzen Mörtelbiene am Goldberg und der Gewöhnlichen Schmalbiene im Naturschutzgebiet Eierberg (Schwäbisch Alb). Zwar liegen uns die Originaldaten nicht vor, doch aus der NABU-Zusammenfassung [2] und dem kurzen Text des Tagungsbandes [7] kann man entnehmen, dass der Rückgang der Nester bzw. der Individuen dramatisch war (Abbildung 2).

Abbildung 2: Rückgang der Gewöhnliche Schmalbiene (Lasioglossum calceatum) nach [7] – Die Anzahl der gefangenen Gewöhnlichen Sandbienen sank von 130 Individuen in 1970 auf ein paar wenige in den 2010er Jahren. Das ist ein Rückgang um 95% im Naturschutzgebiet Eierberge.

Vergleichsstudien im Ausland. Beispiel Österreich

Schaut man ins benachbarte Ausland, findet man ähnliche Untersuchungen. In Österreich gibt es ein kleines Naturschutzgebiet 50 km östlich von Wien, das ca 1,3 km² groß ist und hauptsächlich sandige Böden in unterschiedlichen, ehemaligen Nutzungsformen (Pferderennbahn, Grasflächen, Wiesen mit spärlichem Bewuchs) aufweist: Die Sandberge Oberweiden. Dort haben Wissenschaftler*innen versucht, den aktuellen Wildbienenbestand (Hummeln ausgenommen) zu erfassen und mit historischen Daten, die zurück bis ~1930 reichen, verglichen [9]. Dabei muss beachtet werden, dass die Erfassung in beiden Zeiträumen nicht standardisiert und somit unter Umständen fehlerbehaftet sein könnte. In den Sandberge Oberweiden scheinen vor allem der Anteil an bodenbrütenden Arten rückläufig (Abbildung 3). Dies wird vor allem mit der Pflege des Naturschutzgebietes im Vergleich zur früheren Nutzung erklärt. Teile des Gebietes wurden früher mit Schafweiden kurzgehalten, wohingegen heutzutage das Mähkonzept mit langen Intervallen und versetztem Mähen nicht eingehalten wird. Stattdessen werden die sehr steilen Bereiche gar nicht mehr gemäht und die Flacheren so gemäht, dass alle Blühangebote mit einem Mal entfernt werden. Die Folge ist, dass die steilen Stellen verbuschen und so zu einer Verminderung der Nistmöglichkeiten führen.

Bienengemeinschaft in den Sandberge Oberweiden, Österreich
Abbildung 3: Veränderung der Zusammensetzung der Bienengemeinschaft in den Sandberge Oberweiden nach Nistvorliebe [9] – Seit den 1930er Jahren ging der Anteil der Bodenbrütenden in der Zusammensetzung der Bienengemeinschaft zurück. Dafür stieg der Anteil von Bienen, die in Hohlräumen brüten. Dies spiegelt unter anderem das veränderte Nistangebot in dem Gebiet wider.

Allgemein beobachten die Forscher*innen, dass ca 50% der Arten nach 1966 nicht mehr gefunden wurden, aber dafür neue Arten, die sich aufgrund des Klimawandels neue Lebensräume erschließen mussten, zugezogen sind. Der Grund dafür liegt in der klimatischen Veränderung, durch die die Sandberge Oberweiden sich zu einem wärmeren Standort entwickelt haben.

Die Crux in dieser Studie liegt darin, dass aktuelle Daten mit historischen verglichen werden. Diese Daten sind für manche Regionen gut zugänglich, weil es schon früh Liebhaber von fliegenden Insekten gab. Allerdings ist häufig nicht nachvollziehbar, wie umfänglich, genau und zuverlässig diese Daten sind.

Vergleichsstudien im Ausland. Beispiel Schweiz

Es gibt kaum Studien, die auf einen langfristigen, standardisierten Datenpool zurückgreifen können, weil Standardisierungen für die Zählung von Insekten erst in der 2. Hälfte des letzten Jahrhunderts entwickelt wurden.

Zum Beispiel wird im schweizerischen Limpach Tal seit 1987 das Vorkommen von Gliederfüßlern, also nicht nur Bienen, sondern auch Käfern, Spinnen, Fliegen und Schmetterlingen, erfasst [10]. Das 5 km² große Tal weist neben naturnahen, vor allem auch landwirtschaftlich genutzte Flächen auf. Es wurde an mehreren Stellen in den Jahren 1987, 1997, 2019 das Vorkommen von Insekten bestimmt. Parallel zur Erfassung wurden auch Studien zu verschiedenen Fangsystemen und Erfassungsmethoden gemacht, um möglichst verlässlich und reproduzierbar messen zu können. Wenn so eine Untersuchung über mehrere Jahrzehnte läuft, muss man allerdings im Hinterkopf behalten, dass bei jeder Erfassung andere Personen/Studierende die Messungen durchführen. Eine einfache, nutzerunabhängige und gut dokumentierte Methode ist hier ein Muss.

Die Schweizer Wissenschaftler*innen um Julia Fürst entdeckten, dass sie über den gesamten Beobachtungszeitraum keinen Einbruch der Biomasse oder sonstigen Rückgang verzeichnen konnten. Stattdessen wurde sogar teilweise ein leichter Aufwärtstrend verzeichnet (Abbildung 4).

Abbildung 4: Vereinfachter Überblick der Trends aus [10] – Sowohl die Anzahl der Individuen, als auch die Anzahl der Arten stiegen auf den untersuchten Flächen in den letzten 30 Jahren an.
Einzelfall Anstieg statt Schwund: Suche nach Erklärungen

Da dies dem allgemein beobachten Trend widerspricht, wurden weitere Analysen wie beispielsweise Wetterdaten, Einsatz von Dünge- und Schädlingsbekämpfungsmitteln und weitere statistische Auswertungen herangezogen. Der Trend kann dadurch nicht widerlegt werden. Also führten die Autor*innen folgende mögliche Erklärungen ins Feld:

  1. Die erste Untersuchung wurde rund 40 Jahre nach Einführung der intensiven landwirtschaftlichen Bewirtschaftung der Fläche durchgeführt. Vielleicht ging die Menge der Insekten schon weit vor dem ersten Erfassungsjahr zurück und nun beobachtet man die Erholung nach der Insektenvernichtung (Shifting Baseline Effekt).
  2. Die naturnahen Habitate wurden seit der ersten Zählung durch Renaturierung erweitert, was zu neuem Lebensraum für Insekten geführt hat. Seit den 1990er Jahren erhalten Landwirte zudem Subventionen für brachliegendes Land.
  3. Der Einsatz von Pestiziden und Düngemittel nahm im Untersuchungszeitraum nicht zu.
  4. Außerdem sind die bewirtschafteten Flächen sehr kleinteilig, so dass eine sogenannte Mosaikstruktur vorhanden ist. Diese in Kombination mit naturnahen Flächen fördert die Insektenverbreitung.
  5. Der Klimawandel bedingt allgemein höhere Temperaturen und weniger Frostnächte. Dadurch könnte es eine positive Entwicklung der Biomasse einiger Spezies gegeben haben.

Zu ähnlichen Schlüssen kommen auch Wissenschaftler*innen, die die Laufkäferpopulation in 5 Regionen Deutschlands zwischen 1999 und 2019 untersucht haben [11].

Neue Erkenntnisse durch Wiederaufnahme von Erfassungen

Man kann nun also zwischen schlecht dokumentierten, historischen Referenzdaten oder eigenen, aber zu spät erhobenen Daten wählen. Beides scheint nicht sehr befriedigend, aber zum Glück sind Wissenschaftler*innen es gewohnt, unter nicht optimalen Bedingungen zu arbeiten. Manch einer hat zudem ein Quäntchen Glück. So zum Beispiel die Betreiber der Forschungsstation Randecker Maar auf der schwäbischen Alb [12]. Hier wurden seit den 1970er Jahren Zugvögel auf ihrer Wanderroute gezählt. Schnell stellte das Team um Wulf Gatter fest, dass es neben Zugvögel auch Zuginsekten gab, die man erfassen konnte. Da dies aber arbeitsintensiv und nicht das Kerngeschäft der Forschungsstation war, wurden die Zählungen nach einigen Jahren eingestellt. Damals war man sich noch nicht sicher, ob der Abwärtstrend nicht eher als Schwankung zu verstehen war. Mit Aufkommen der neueren Diskussionen um den Insektenschwund wurden die Messungen zwischen 2015 und 2020 wieder aufgenommen. Und nun war der Abwärtstrend der Zuginsekten deutlich sichtbar:

Abbildung 5: Entwicklung der Tagesmaxima gezählter Insekten nach [12] – Die Individuenanzahl von Schlupfwespe, Schwebfliege und anderer ziehender Fluginsekten wurde seit den 1970er Jahren beobachtet und nahm zwischen 1980 und 2020 um etwa 90% ab.

Was hier beobachtet wurde, ist nun ein Rückgang verschiedener Spezies, ähnlich denen der Zugvögel. Diese sind natürlich nur schwer mit den ortsansässigen Wildbienen oder Hummeln zu vergleichen. Vielleicht haben sie nur ihre Route geändert oder ihre Anzahl ist zurückgegangen, weil in einem anderen Teil der Welt ihre Nahrungsgrundlage zerstört wurde?

Schwund oder Ausweichen? Das Beispiel Hummel

Einen Sonderfall bei den Wildbienen stellen die Hummeln dar: Alle Hummeln sind Wildbienen, aber nicht alle Wildbienen sind Hummeln. Die pelzigen Vertreter sind besonders, weil sie zum Beispiel in sozialen Verbänden leben, ähnlich wie die Honigbiene, und weil sie außerdem andere Anforderungen an ihre Umgebung haben. Ein Buch, das tolle Details über Hummeln in einer unterhaltsamen Weise aufbereitet, ist „Und sie fliegt doch“ von Dave Goulson [13]. Ein wichtiges Merkmal von Hummeln ist, dass sie eine hohe Betriebstemperatur haben und deswegen kaum in warmen Regionen wie dem Mittelmeerraum oder südlich davon auftreten. Dafür fühlen sie sich in großen Höhenlagen und in sehr nördlichen Regionen wie zum Beispiel dem Alpenraum oder Norwegen wohl.

Daher gibt es viele Studien, die die Auswirkung der Erderwärmung auf Hummeln untersuchen, da diese besonders sensibel auf steigende Temperaturen reagieren. Am Großglockner haben Wissenschaftler*innen herausgefunden, dass 2020 rund 25% der Hummelarten im Vergleich zu 1935/36 verloren gingen [14]. Der Lebensraum der Hummeln veränderte sich zum einen durch den Rückgang der Gletscher und der Baumgrenze, aber auch durch die Nutzung des Menschen (Skigebiete und blütenarme Grasweiden). Dabei waren vor allem die Hummelarten betroffen, die wenig flexibel sind und auf bestimmte Blüten spezialisiert sind sowie die von ihnen abhängigen Kuckuckshummeln. Leider beschränkten sich die jeweiligen Beobachtungszeiträume zu Beginn und zum Ende eines Jahres, so dass eine gewisse Unsicherheit bleibt. Die Autor*innen wollen die Untersuchung nun aber kontinuierlich wiederholen, um die weitere Entwicklung zu dokumentieren.

Ob Hummeln verschwinden oder nur woanders hin ausweichen, untersuchten norwegische Wissenschaftler*innen 2018 im Vergleich zu Daten aus den 1950er Jahren [15]. Unter Anderem fanden sie einen ansteigenden Trend der Anzahl der Arten in großen Höhenlagen und einen Rückgang in niedrigen Höhenlagen bei gleichzeitigem Anstieg der Jahresmitteltemperatur:

Abbildung 6: Verteilung der Artenvielfalt nach [15] – Während die Artenvielfalt Der Norwegischen Hummeln in höheren Lagen im Grunde konstant bleibt, sinkt sie in niedrigeren Lagen seit den 1950er Jahren aufgrund der zunehmenden Temperaturen

Dies kann als Ausweichbewegung der Hummeln in kühlere Regionen gewertet werden und deckt sich mit ähnlichen Beobachtungen über das Einwandern von wärmeliebenden Spezies in ehemals kühlere Regionen. Wenn die Hummeln nun aber in höhere Regionen ziehen, isolieren sich die Völker immer mehr, da sie schlecht von Gipfel zu Gipfel fliegen können. Dadurch verringert sich ihr Genpool, was sie anfälliger macht, warnt der WWF [16]. Und an vielen Stellen in Deutschland gibt keine Möglichkeit, in kühlere Regionen auszuweichen. Dann wird es doof für die Hummeln.

Voraussetzungen für ein verlässliches Bild

Wollten wir nun absolute Gewissheit über den Zustand der Wildbienenbestände in Stuttgart und Umgebung haben, müsste die Bestandserfassung von 1999 [1] wiederholt werden, um festzustellen, ob sich die Bestände von damals vielleicht schon deutlich dezimiert haben (Stichwort Shifting Baseline Effekt). Andererseits kann man sich natürlich fragen, warum es bei uns anders sein sollte als im Rest Zentraleuropas? Laut des Autors der ersten Stuttgarter Studie ist eine aktuelle Erfassung im Jahr 2023 erfolgt und wartet nur noch auf die Veröffentlichung durch die Stadt Stuttgart.

Ursachen des Artenrückgangs

Wenn wir also zusammenfassen, was ein Teil der wissenschaftlichen Gemeinschaft zusammengetragen hat, können wir sagen, dass alle Wissenschaftler*innen übereinstimmend festgestellt haben, dass unsere Insekten und damit unsere Bienen seltener werden. Auch wenn es kompliziert ist, unterschiedliche Studien miteinander zu vergleichen, da der Fokus häufig auf verschiedenen Insekten, Regionen, Zeit- und Gebietsräumen liegt, spiegelt sich dennoch in den Ergebnissen der Untersuchungen ein weltweit dramatischer Rückgang an Biomasse, Diversität und Populationsdichte wider. Die Gründe für das allmähliche Verschwinden der Bienen und vieler anderer Insekten sind die Umnutzung von Naturlandschaften, der verstärkte Einsatz von Insektengiften und die Einwanderung von invasiven Arten. Zusätzlich verstärkt werden die einzelnen Ursachen durch den fortschreitenden Klimawandel, der mit steigenden Temperaturen und Extremwetterereignissen die angestammten Lebensräume vieler Insekten verschiebt oder zerstört. Manchmal gelingt es einzelnen Arten wie z.B. Hummeln dem Klimawandel auszuweichen, indem sie in kühlere Regionen abwandern. Das Abwandern wird jedoch oft durch die zunehmende Fragmentierung der Landschaft erschwert oder sogar verhindert. Gelingt sie dennoch, dann entstehen mitunter isolierte Populationsinseln, die aufgrund ihrer genetischen Verarmung ihre Anpassungsfähigkeiten verlieren und auf lange Sicht nicht überleben können. Der Hauptgrund für die Zerstückelung der Naturlandschaften ist die Umnutzung, die in Deutschland zurzeit 55ha/Tag [17] beträgt. Naturnahe Lebensräume gehen zugunsten von Siedlungsbau, Bau von Infrastrukturen, industrieller Bebauung und von Landwirtschaft verloren. Einen hohen Anteil an der Problematik hat dabei die heutige hoch industrielle und spezialisierte Landwirtschaft. In Deutschland stellt sie mit 50% der Fläche die größte Flächennutzung [18] dar. Der Anbau von Monokulturen und die Maximierung von Feldflächen für die optimale maschinelle Bearbeitung der Böden sowie die vielfache Verwendung von Pestiziden und Kunstdünger haben Ackerflächen und Weiden immer mehr zu feindlichen und tödlichen Lebensräumen für Bienen und Insekten werden lassen. Die Häufigkeit von Arten auf diesen Flächen ist um 30% gesunken [19]. Dennoch will keiner in Frage stellen, dass Landwirtschaft eine Notwendigkeit zur Nahrungsmittelversorgung ist. Nur hat sich die konventionelle Landwirtschaft gefährlich verändert und übersieht dabei ihre eigene Abhängigkeit vom Ökosystem. Bestäuber wie Bienen, Wespen, Schmetterlinge und Käfer, haben eine Schlüsselfunktion im Ökosystem. Ohne ihre kostenlose Ökosystemleistung, die in Deutschland immerhin bei 3,8 Milliarden Euro liegt und global auf bis zu 1 Billion USD/Jahr [20] berechnet wird, wäre der Anbau von Ackerfrüchten, Gemüse und Obst nicht möglich. Der alleinige Erhalt der Honigbiene und weniger Arten, die in Farmen gezüchtet werden wie Mauerbienen und Hummeln, ist risikoreich und werden nicht ausreichen, denn nur das über Jahrmillionen ausgefeilte Zusammenspiel vieler Spezialisten garantiert die optimale Bestäubung aller Pflanzen.

Von der extensiven zur intensiven Landwirtschaft

Bevor man die Schuld am Insektensterben alleine den Landwirten zuschiebt, sollte man darüber nachdenken, wie es dazu kam. Jahrtausende stand der Anbau von Feldfrüchten im Einklang mit der Natur, jedoch oft auf Kosten der Menschen, die tagtäglich mit hohem körperlichen Einsatz um die jährliche Ernte gerungen haben. Zu einschneidenden Veränderungen kam es ab den 1950er Jahren mit der zunehmenden Verwendung von Kunstdünger, Pestiziden und der maschinellen Bearbeitung der Böden. Eine wichtige Voraussetzung hierfür war das von der Bevölkerung und Regierung gewollte Flurbereinigungsverfahren, das die durch Realteilung kleinen Feldpartien zu großen Flächen wieder zusammenführte. Zeit- und personalsparend konnte nun mehr angebaut werden, aber in Folge der Flurbereinigung verschwanden auch Hecken und Feldraine, lebensnotwendige Rückzugsgebiete für Insekten und Vögel. Unbefestigte Feldwege wurden immer häufiger für die schweren Traktoren asphaltiert. Große Monokulturen entstanden und mussten vor Pflanzenkrankheiten und Fressfeinden mit immer ausgepfeilteren Pestiziden geschützt werden. Eine Unterscheidung zwischen Nützlingen und Schädlingen fand nicht statt. Stallhaltung ersetzte die Weidehaltung und führte zur heutigen Massentierhaltung mit einem Überangebot an Gülle, mit der Wiesen und Felder überdüngt werden. Blühpflanzen, die auf Magerwiesen gedeihen, verschwinden und entziehen den Bienen und anderen Wiesenbewohnern die Nahrungsgrundlage und Nistmöglichkeiten. Die Ernteerträge stiegen, die Marktpreise für landwirtschaftliche Produkte verfielen. Nach dem Motto „Wachsen oder Weichen“ gaben kleinere und extensive Betriebe immer öfter unter dem steigenden Preisdruck auf. Regierungen und Lobbyisten trieben mit Subventionen für Anbauflächen eine intensive Landwirtschaft voran. Widerstand wagten lediglich wenige ökologisch orientierte Landwirte. Das Erstarken des Europäischen Marktes schuf zusätzliche Konkurrenz und ein Regelwerk an Vorschriften. Eine schnellere und effizientere Handelslogistik eröffnete schließlich globale Märkte. Heute unterliegen viele Landwirte dem Preisdiktat von wenigen Großkonzernen, die den Lebensmittelhandel dominieren. Um den Landwirten und letztendlich uns allen zu helfen diese Spirale zu verlassen, müssen die EU, die Landesregierungen und jeder Einzelne an einem Strang ziehen, denn am Ende der Nahrungskette stehen wir alle. Ohne den Schutz unserer Bienen und Insekten gefährden wir die Ernährungssicherheit aller Menschen.

Den Umbau der konventionellen Landwirtschaft mit alternativen Anbaumethoden wie Permakultur oder Agroforstanbau bis hin zu einer kleinteiligen Nutzung der Anbauflächen, die Naturmanagement mit Hecken, Brachflächen und Insektenkorridore integriert, müssen von Regierungsprogrammen, Verbänden und vor allem von Landwirten getragen werden. Aber eines ist klar, artenschonendes Wirtschaften muss für Landwirte auch lukrativ sein. Deutschland stehen jährlich 6 Milliarden Euro an Agrarsubventionen zur Verfügung, die gut für eine Agrarwende mit Ausgleichszahlungen genutzt werden könnte.

Was kann ich tun, um das Artensterben zu stoppen?

Aber auch jeder Einzelne kann einen Beitrag leisten. An erster Stelle steht hier ein nachhaltiges Konsumverhalten und die Bereitschaft, höhere Preise für Lebensmittel zu zahlen. Es liegt in der Entscheidung jeder einzelnen Person, ob sie sich nachhaltig ernähren möchte. Eine regionale, saisonale, vegetarische oder vegane Ernährung trägt jedenfalls unmittelbar zum Erhalt der Artenvielfalt bei. Wer nicht komplett auf Fleischgerichte verzichten möchte, sollte seinen Konsum dennoch drastisch reduzieren. Der durchschnittliche Fleischkonsum pro Kopf liegt in Deutschland noch bei über 50Kg/a, was dazu führt, dass auf 60-70% der landwirtschaftlich genutzten Flächen Futtermittel angebaut werden. 1 kg Rindfleisch benötigt 160 mal mehr Anbaufläche als 1 kg Kartoffeln [21]. Ein weiterer Punkt ist die Vermeidung von Lebensmittelverschwendung. In Deutschland wandern jährlich 18 Millionen Tonnen an Lebensmittel in den Müll, das entspricht etwa 15% unserer Anbaufläche [21].

Auch im Alltag gibt es Möglichkeiten, sich aktiv für die Artenvielfalt zu engagieren. Der Anteil an Gärten beträgt in Deutschland 4% der Landesfläche [22]. Schotterungen und Versiegelungen von Böden schaffen biologische Wüsten. Dagegen kann eine insektenfreundliche und pestizidfreie Bepflanzung von Garten und Balkon Kleinstbiotope für viele Arten entstehen lassen. Der NABU Baden-Württemberg hat viele tolle Tipps für die Bepflanzung mit heimischen Stauben und Wildpflanzen, die besonders hilfreich für heimische Insekten sind. Beschränkt sich der Garten- oder Wiesenbesitzer zudem auf ein zweimaliges Mähen der Grasflächen pro Saison, so werden mit der Zeit die verschiedensten Arten an Blühpflanzen die Graslandschaften bereichern und einer Vielzahl an Bienen und Insekten Nahrung und Nistmöglichkeiten bieten.

Ein wichtiger Punkt ist auch die Förderung des Naturverständnisses. Jeder Mensch sollte sich täglich 15 Minuten oder 2 Stunden pro Woche Zeit nehmen und sich mit der Natur beschäftigen oder sich darin bewegen. Kenntnis und persönliches Erleben schaffen Verständnis und Rücksicht [23]. Ein Spaziergang durch Obstbaumwiesen, Wälder oder einem Flusslauf entlang baut Stress ab und wirkt positiv auf unsere Gesundheit. Es gibt uns spannende Einblicke in das Leben von Pflanzen und Tieren.

Nachwort

Obwohl wir große Sorgfalt walten haben lassen, kann die Übersicht nicht vollumfänglich sein, weil einige Veröffentlichungen nicht kostenlos zugänglich sind, immer wieder neue wissenschaftliche Arbeiten erscheinen und unsere Kapazität als ehrenamtlich Engagierte leider begrenzt ist. Unsere Arbeitsthese ist, dass der Rückgang der Biomasse auch in Baden-Württemberg und der Verlust der Biodiversität der Wildbienen real ist und ernsthafte Auswirkungen auf uns Menschen hat. Dennoch bemühen wir uns auch, widersprüchliche Sachverhalte kritisch und objektiv darzustellen. Für eine bessere Verständlichkeit haben wir versucht, die Abbildungen aus den wissenschaftlichen Arbeiten zu übersetzen und auf das Wesentliche zu reduzieren, ohne wesentliche Details außer Acht zu lassen.

Mit unserem Beitrag möchten wir jede*n Leser*in einladen, mit uns die Widersprüche zu diskutieren und so ein bestmögliches Verständnis der Populationsentwicklung der Wildbienen in Baden-Württemberg zu bekommen.

Literatur
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